Am Anfang war das Wort – aber welches?
- ak-lorenz
- Nov 15, 2024
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Eine Textanleitung
Ein Text hat zwangsläufig einen Anfang, ein erstes Wort, einen ersten Satz. Natürlich hat er immer auch ein Ende, aber am Anfang ist es eindeutig schwieriger; das erste Wort ist gewichtig, die Erwartungshaltung groß. Als möglicher Ausweg, dem Anfang den Schrecken zu nehmen und ins Schreiben zu kommen, wird oft geraten, doch einfach mittendrin anzufangen. Auch die Woche lässt sich schließlich beliebig und genauso gut am Samstag beginnen.
Das Problem ist nur, dass dabei der Aufhänger fehlt, an dem sich der Gedanke festmachen und weiterentwickeln lässt. Das weiße Blatt, ob virtuell oder aus Papier, wird zur Wand, an der jeder Anfangsgedanke abgleitet. Deshalb ist hilfreich, auf der Suche nach einem Texteinstieg einen Katalog verschiedener Argumentationsmustern durchzugehen. Eine solche Sammlung formal-logischer und thematischer Gesichtspunkte liefert Ideen, um erst einmal den Gedankengang zu strukturieren und geeignete Motive für den Gegenstand zu finden, von dem der Text handeln soll. Danach kommen die Worte fast von allein. Am Anfang stehen also nicht einfach einzelne Wörter und der erste Satz, sondern gedankliche Bilder, die die passenden Wörter nach sich ziehen.
Topoi als Findemittel
Bevor es mit den konkreten Tipps weitergeht, gibt es zum besseren Verständnis noch einen kleinen Ausflug in die Geschichte der Rhetorik. Denn natürlich haben sich schon in der Antike die Menschen den Kopf darüber zerbrochen, wie ihr Text, und wenn auch meist als mündliche Rede, beginnen soll. Seitdem hat sich das Vorgehen bei der Gestaltung von Textinhalten kaum grundsätzlich verändert. Vor der sprachlichen Ausformulierung galt es, die inhaltlichen Textelemente, die einzelnen Aussagen und Argumente, zu finden und anzuordnen. Dazu verwendeten die antiken Textprofis als eine Art „Starthilfe das System der Topik. Es gehört zu den Hauptaufgabenfeldern der klassischen Rhetorik und geht ursprünglich auf Aristoteles zurück.
Unter Topik verstand Aristoteles eine geordnete Zusammenstellung verschiedener Suchkategorien, der Topoi, die bei der ersten Textkonzeption helfen, überzeugende Argumente zu finden. Aristoteles gliederte diese Fundstellen vor allem nach formalen Gesichtspunkten, Cicero fügte diesen allgemeinen Argumentationsmustern später außerdem die inhaltliche Kategorie der Sachtopoi hinzu, die nur für bestimmte Themen-, Wissens- und Lebensbereiche gelten. Mit der Zeit hat sich die Bedeutung des Topos verändert. Von dem Konzept der Suchformel für Argumente hin zum Begriff für das Argument selbst, für seinen Inhalt und seine metaphorische Bedeutung.
Verschiedene Typen von Argumentationsmustern
Inwieweit ein Topos ein abstrakt-formales Denk- und Argumentationsmuster oder ein konkretes Thema meint, wird durch die nachfolgenden Beispiele deutlich. Die Auflistung dieser Fundstellen zeigt aber auch, dass die beiden Topos-Begriffe in der Praxis nicht trennscharf sind. Schließlich müssen auch die abstrakten Schemata mit Inhalt gefüllt werden. Deshalb spielen die sprachbezogenen inhaltlichen Elemente wie bestimmte Themen oder Schlagworte in die formal-logische Struktur einer Argumentation hinein. Umgekehrt wirkt sich eine bestimmte Argumentation, wie etwa eine Schlußfolgerung aus dem Gegenteil, auf die Wahl eines bestimmten Motivs, einer Sentenz oder einer Anekdote aus.
Das liegt daran, dass inhaltliche Topoi an ihren sozialen Kontext gebunden, in gesellschaftliche Meinungsbilder und öffentliche Diskussionsfelder eingebettet sind. Deshalb lassen sie sich meistens nicht so eng fassen wie ein abstraktes Argumentationsmittel. In vielen Fällen bilden sie vielmehr ganze Denkweisen oder Diskursthemen ab, die sich mit der Gesellschaft verändern und unterschiedliche Bedeutungen annehmen.
Wenn ein inhaltliches Topos zu häufig verwendet wird, kann es seiner Bezeichnung auf andere Art gerecht werden. Denn der griechische Begriff Topos meint in der lateinischen Übersetzung „loci communis”, auf Deutsch „Gemeinplatz”. Dieser Ort ist also eine allgemein bekannte Fundstelle, die ein Argument, Motiv oder Thema als Stereotype bereithält und schnell die Bedeutung von „gewöhnlich” erhalten kann. Ein solcher Topos kommt einer abgedroschenen Phrase gleich, die meistens Langweile hervorruft und wenig überzeugend ist.
Gliederung und Beispiele
Im Großen und Ganzen führt der hier nur grob umrissene Gliederungsversuch aber schließlich vor Augen, dass wir die antike Methode für das Auffinden von Argumenten auch heute noch mehr oder weniger intuitiv nutzen. Und gerade am Textanfang deutet alles auf diese Suche hin, auf die sich jemand gemacht haben muss, um den alles entscheidenden Einstieg zu finden. Entscheidend ist dabei vor allem, den richtigen Punkt zu treffen. Das ist derjenige, an dem sich das Argument auf die überzeugende Kraft einer anerkannten Denkweise stützt, ohne abgegriffen zu wirken. Damit also zu den Beispielen für einen geeigneten Anfang:
1. Formale Argumentationsmuster sind universale Schemata, die zunächst nur eine kontextunabhängige abstrakte Denkweise beschreiben:
Kausalität und Korrelation: „Im Norden der Iberischen Halbinsel zeigt der ausbleibende Schnee spürbar Folgen. Jetzt musste in der Region um Barcelona der Wasserverbrauch beschränkt werden.”
Plausibilität: „Die rasante Verbreitung von KI-Tools macht auch vor Schulen und Hochschulen nicht halt. Das wirft die Frage auf, wie zeitgemäß die bestehenden Prüfungsanforderungen sind.”
„Auch wenn es auf den ersten Blick offensichtlich erscheint – der Fachkräftemangel in Deutschland ist nicht auf die hohe Akademikerquote zurückzuführen.”
—> existiert auch in Form der Widerlegung
Öffentliche Meinung: „In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die sich gegen die geplante Krankenhausreform erheben.”
„Das Schreckgespenst der Inflation ist zurück und wieder in aller Munde ...”
Expertenmeinung: „In einer Sache sind sich die zuständigen Medienexperten einig: Für Kinder birgt der Gebrauch des Smartphones ein besonderes Risiko. Von einem generellen Verbot rät die Kinder- und Jugendpsychologin und Sachverständige M. aber ab.”
Statistik: „Immer mehr Unternehmen setzen bei Neueinstellungen auf Kenntnisse im Umgang mit ChatGPT. Diesen Trend verdeutlicht die aktuelle Umfrage der Plattform ‚Intelligent’: Demnach geben 56 % der Führungskräfte US-amerikanischer Unternehmen an, ...”
Definition: „Text bezeichnet gemeinhin eine im Wortlaut festgelegte, inhaltlich zusammenhängende Folge von Aussagen. Mit dem digitalen Medium erhält der Text allerdings eine neue Dynamik, wird seine Einheit doch im Hypertextgefüge aufgebrochen.”
Zitat: „Lesen bereichert den Menschen, mündlicher Gedankenaustausch macht ihn gewandt. Niederschriften verhelfen zu genauerem Wissen.’ – das stellte der englische Philsoph Francis Bacon vor rund 500 Jahren fest. Tatsächlich besteht die Bedeutung des menschlichen Schreibens fort – der maschinellen Textproduktion zum Trotz.”
Beispiel: „Schule ist vor dem Hort ist vor dem Krankheitsfall. Für die Mutter des achtjährigen B. droht bei jeder Erkältungswelle gleich der Ausnahmezustand. Am durchgetakteten Alltag vieler Alleinerziehenden wird deutlich, wie anfällig er für unvorhergesehene Störungen ist.”
Anekdote: „Bevor die Patientin den Trinkbecher an den Mund setzen kann, öffnet sich der Deckel. Das Wasser ergießt sich über das Bett. Veronica hebt ihn auf, füllt neues Wasser ein und holt den Wischmop. Zum dritten Mal heute. Die Zeit pro Patient ist knapp, die Schicht längst zu Ende. Veronica ist eine von 15 Pflegekräften, die auf der Station arbeiten und regelmäßig Überstunden machen.”
Teil-Ganzes-Beziehung: „Die Kartoffel, des Deutschen Lieblingsgrundlage für Chips, Fritten und Bratkartoffeln, hat einen Migrationshintergrund.”
—> häufig in Nähe zu metaphorischen Ausdrücken
Gattung-Art-Zuordnung: „Rund 48 Mio. Euro betrug 2023 der Jahresumsatz der Firma F., die derzeit 230 Angestellte beschäftigt. Der IT-Dienstleister mit Sitz in M. zählt damit zu den führenden KMUs in Deutschland.”
Vergleich: „Die aktuelle Debatte um eine politisch korrekte Sprache ist nicht ganz neu. Erste Versuche, rassistische Ausdrücke der europäischen Kolonialmächte umzudeuten, reichen zurück bis in die Zeit vor dem 2. Weltkrieg.”
—> häufig Überschneidungen mit den inhaltlichen Topoi „Zeit”, „Ort” oder „Geschichte”
Gegensatz: „Während die Fahrt im Pkw auf den meisten französischen Autobahnen seit 60 Jahren Gebühren kostet, klingt in Deutschland die Maut-Affäre noch nach.”
—> Sonderform des Vergleichs!
Metapher, Gleichnis und Analogie: „Der grünen Lunge geht die langsam die Puste aus. Mit dem neu verabschiedeten Bebauungsplan droht der Stadt in den Sommermonaten ein Hitzestau.”
„Aus der Ferne erinnert die neue Stadtbibliothek an einen gefallenen Engel, dessen Flügel schlaff herabhängen.”
„Auf dem Spielplatz ist Theater. In den Hauptrollen sieht man nicht etwa die Dreijährigen mit ihren Förmchen und Schippen, sondern vier Elternteile, die sich heftig anschreien. Bald fehlt es nicht an Zuschauern.”
—> bildhafte Varianten des Vergleichs
direkte Leseransprache: „Sie haben noch nie einen Coffbucha getrunken? Das sollten Sie schnellstens nachholen.”
—> oft in Kolumnen und Blogs zu finden, sehr persönlich und gerne auch provokativ
2. inhaltlich-thematische Argumentationsmuster gelten für bestimmte Epochen, Kulturen, Wissens- und Lebensbereiche, sind also kontextabhängig:
Geschichte: „Der Welttag des Buches, den die Stiftung Lesen 1995 einführte, jährt sich bald zum 30. Mal. Grund genug, sich einmal die jüngsten Entwicklungen auf dem Buchmarkt anzusehen.”
„Knobelspiele haben eine lange Tradition. Die ersten Vorläufer des bekannten Zauberwürfels sind aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. überliefert.”
—> meist in Kombination mit dem Zeit-Topos
Zeit: „Wer schon dachte, die Tage öffentlicher Bibliotheken seien gezählt, hat weit gefehlt. Als Lernorte haben sie auch in Zeiten der Digitalisierung starken Zulauf.”
„Neue Zeiten erfordern neue Wege.”
—> klingt ohne ironische Brechung schnell abgedroschen
Allgemeinwohl: „Kinder haben durch die Einschränkungen während der Pandemie enorm zurückstecken müssen. Jetzt ist es unsere Pflicht, ihnen beim Aufholen des Verpassten verständnisvoll und gelduldig zu helfen.”
Wahrhaftigkeit: „Die Folgen der Klimaveränderung lassen sich nicht mehr länger leugnen. Wir müssen deshalb ernsthaft darüber reden, wie wir die Welt für unsere Nachkommen erhalten.”
—> geht häufig Hand in Hand mit dem Allgemeinwohl-Topos
Einsame Insel: „Stellen Sie sich vor, Sie landen spätabends in einer fremden Bar in einer fremden Stadt und Ihr Handyakku ist leer.”
Gentrifizierung: „Wo erstmals Biomarkt und Barista-Café Einzug halten, geht im Viertel schnell die Sorge vor Mietpreiserhöhungen um.”
Geiz ist geil: „‚Geiz ist geil‘ ist vorbei. Trotz Konsumkrise Slogan von vor 20 Jahren nicht mehr den Zeitgeist.”
—> Werbeslogans laufen schnell Gefahr, entweder abgegriffen oder aber unbekannt zu sein
Probieren Sie es zur Übung aus, nehmen Sie beliebige Texte und versuchen Sie, die ersten drei Sätze den obigen Beispielen zuzuordnen. Das nächste Mal, dass Sie über einem noch leeren Blatt sitzen oder die Antwort auf einen ersten Prompt lesen, werden Sie die Argumentationsstruktur und die Bedeutung des Anfangs besser beurteilen können.
Weitere Tipps, um den Text als argumentative Gesamtstruktur aufzubauen, finden Sie in der Anleitung „Wie baue ich einen Text oder Die Kunst der Argumentation“.
Literatur:
Goldmann, Stefan: Topik und Memoria. Beiträge zu einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Basel: Schwabe Verlag, 2023.
Primavesi, Oliver: „Topik/Topos I“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 10. Basel: Schwabe Verlag, 1998, S. 1263–1269.
Schirren, Thomas; Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Berlin/Boston: De Gruyter, 2000.
Wengeler, Martin: „Topos“. In: Diskursmonitor, Version 1.1, 3.11.2021, https://diskursmonitor.de/glossar/topos/.


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