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Der Filter des Riesenmaulhais

Updated: Nov 15, 2024


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Hausaufgabe war ein Referat. Die Siebtklässlerin trug es ihrer Tante testweise vor. Es ging um den Riesenmaulhai und die Informationen dazu in Wikipedia waren eher spärlich gewesen. Eine Seite ohne großes Scrollen. Auf anderen Seiten fanden sich immerhin ein paar Fotos, der Hai hatte sein riesiges rundes Maul weit geöffnet und guckte dabei fast vorwurfsvoll. Wie gut, dass die Mutter nicht nur PowerPoint konnte, sie war auch fit in Prezi und der Hai schwamm mit dem offenen Maul förmlich auf dem Bildschirm heran. Dazu etwas Text auf den Folien.


Die Tante war beeindruckt, die Zeiten, in denen ihr Lehrer noch Wikipedia verteufelt hatte, waren dahin. Sie ließ sich die Sätze vorlesen – der Riesenmaulhai ernährte sich von Riesenmengen an Krill, maß bis zu 5 Metern und wurde trotz seiner beachtlichen Größe erst 1976 entdeckt. Das war dasselbe Jahr, in dem einer der ersten PCs für jeden auf den Markt kam. Kurz zuvor hatte das Internet seinen Namen bekommen und war dabei, in seine wilde Phase einzutreten, so Wikipedia. Die Tante schweifte ab und holte aus.


Ganz im Geist der Explorer und einer neuen Demokratie wuchs ein selbstorganisiertes Geflecht aus Text heran, zu den neuen Hypertexten, wo doch Text schon Wortgewebe meint. Es war nicht mehr länger in militärischer Hand, sondern verband eine Handvoll Forschungseinrichtungen miteinander, ohne dass irgendeine zentrale Schaltstelle die Informationen durch das Computernetzwerk steuerte. Mit jedem Knoten, an dem sich ein neuer Computer per Modem einwählte, spannte sich das Netz weiter, durch das sich die Informationen selbst päckchenweise einen Weg suchten.


Aber die Vorstellungen ging weiter. Statt aktuelle Publikationen mühsam in Papierform zu verschicken und noch mühsamer überhaupt zu suchen, träumten die Wissenschaftler:innen davon, Forschungsergebnisse ortsunabhängig in kürzester Zeit übermitteln und aufeinander beziehen zu können. Einer, der die Sache schließlich vorantrieb, war Tim Berners-Lee. Der Physiker arbeitete Ende der 1980er Jahre am Schweizer Forschungszentrum CERN daran, auf dem gerade entwickelten Netz aus Computern ein System aufzusetzen, das logische Querverbindungen zwischen verschiedenen Dokumenten zuließ.


Zum World Wide Web wurde es offiziell dann 1991, als die erste Webseite online ging. Seitdem ist die gerade Verbindungslinie, die Texte bis dahin zwangsläufig in ein Neben-, Vor- und Nacheinander ordnete, aufgebrochen in eine netzförmige Struktur aus Hypertexten, die Text- oder Bildobjekte über Links verbinden.


Für die ersten Fachartikel über den Riesenmaulhai kam die Entwicklung zu spät. Die 1983 erschienene Publikation von Leighton R. Taylor, der der neuen Haispezies ihren Namen gab, dokumentierte den Fang des ersten Exemplars vor der Küste Hawaiis. Unvorstellbar, wie lange es gedauert haben muss, bis die Neuigkeit über den engen Expertenkreis hinaus bekannt wurde. Noch die erste Aufnahme, die Tim M. Berra 1990 von einem lebenden Riesenmaulhai machte, schaffte es erst im Nachhinein, als Retrodigitalisat des analogen Fotos, ins Internet. Das erste digitale Bild überhaupt erschien 1992 auf der Website des CERN und schrieb als Schnappschuss der institutseigenen Musikband in aller Stille Geschichte. Bis sich mehr und mehr Leute im Internet zurechtfanden, der Browser hinzukam und sich die Benutzeroberfläche leichter bedienen ließ, brauchte es noch ein paar Jahre.


Dank der digitalen Revolution ist es mittlerweile zumindest technisch unproblematisch, Dokumente zu teilen, zu verknüpfen und umzuformen und wie selbstverständlich Suchmaschinen und Datenbanken zu durchforsten. Das Problem ist nun nicht mehr die Suche über lange Strecken, um eines von wenigen Exemplaren zu sichten, sondern die schiere Masse im unendlichen Datenmeer, die ähnlich dem Schwarm aus Krill erstmal gefiltert werden muss. Der Riesenmaulhai überlässt indessen nichts dem Zufall, was in sein riesiges Maul schwimmt und was der davon aufnimmt, entscheidet er selbst, sagt die Nichte. Wie aber das Filtern im Internet geschieht, ist nicht immer nachvollziehbar.


Die Tante starrt auf die letzte Folie, auf das in großen Buchstaben geschriebene Wort „Quellen”, und klein darunter las sie die zwei Zeilen: „Wikipedia” und „Bing”. Sie holte Luft, wollte dann nicht der Lehrer ihrer Zeit sein und setzte erneut an. Das Filtern ist so eine Sache und es ging schließlich um den Riesenmaulhai.



Literatur:

Berra, Tim M.; Barry Hutchins: A Specimen of Megamouth Shark, Megachasma pelagios (Megachasmidae) from Western Australia. Records of The Western Australian Museum 14, 1990, S. 651–656 (Internet Archive: https://archive.org/details/biostor-225771)

Leiner, Barry M. et al.: A Brief History of the Internet (1997), Internet Society, https://www.internetsociety.org/internet/history-internet/

Taylor, Leighton R.; L.J.V. Compagno; Paul J. Struhsaker: Megamouth – a New Species, Genus, and family of lamnoid Shark (Megachasma pelagios, Family Megachasmidae) from the Hawaiian Islands. Proceedings of the California Academy of Sciences 43(8), 1983, S. 87–110 (Internet Archive: https://archive.org/details/biostor-3316)

 
 
 

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